Ein Wohngebäude in Warschau macht mit seiner Farbe und raffiniertem Lichtspiel auf sich aufmerksam. Doch der Bau setzt auch ein Zeichen für einen Wandel in der polnischen Bauindustrie.
Praga ist einer der ältesten Bezirke Warschaus. Östlich der Weichsel gelegen, prägen historische Backsteinbauten das Aussehen des Bezirks, der im zweiten Weltkrieg weitgehend von Zerstörungen verschont blieb. Die Stadtverwaltung legt Wert darauf, den Bezirk in seinem historischen Charakter zu erhalten und genehmigt nur wenige Nachverdichtungsprojekte.
Das Wohngebäude Sprzeczna 4 ist eines davon. Auf einem schmalen Grundstück neben einem Wohngebäude mit historischer Steinfassade gelegen, setzt es mit seiner rot leuchtenden Sichtbetonfassade ein modernes Zeichen, fügt sich aber dennoch in seine Umgebung ein. „Das Gebäude Sprzeczna 4 will die Restauration des Bezirks Praga weiterführen und ein herausragendes Element werden – nicht nur in der unmittelbaren Umgebung, sondern auf einer höheren Ebene“, schreiben die Architekten des polnischen Büros BBGK über ihr Projekt.
Das 2017 fertiggestellte Gebäude präsentiert sich zur Straßenseite mit einer offenen Fassade, in die die Balkone eingelassen sind. So bewahrt das Gebäude den glatten Fassadencharakter der umliegenden Bebauung. Gleichzeitig bietet die Einfassung der Balkone den Bewohnern einen Wetterschutz.
Dahinter erstreckt sich ein versetztes und überraschend tiefes Gebäude, ringsum eingehüllt in eine leuchtend rote Fassade aus Fertigteilelementen. Im Erdgeschoss ist die Fassade mit Logos und Grafiken versehen, darüber erstreckt sich eine auf den ersten Blick glatt wirkende Sichtbetonfassade. Erst bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die Betonfertigteile zart strukturiert sind, und zwar mit einer besonderen Struktur. BBGK wählten eine Antislip-Matrize von RECKLI für die kaum wahrnehmbare Strukturierung der Betonfassade. Antislip-Matrizen werden normalerweise auf Böden eingesetzt, um rutschfeste Betonoberflächen zu erzielen. Die RECKLI Antislip garantiert Rutschsicherheitsklasse R13. Dafür sorgen extrem feine pyramidenförmige Aufsätze, die mithilfe der Matrize in die Betonoberfläche geprägt werden. „Die Architekten haben sich für diese Struktur entschieden, um das Licht an den Betonelementen zu brechen“, erklärt Andrzej Wójcik, der die polnische RECKLI-Vertretung betreut.
Durch die feine Strukturierung wird einerseits ein sanftes Lichtspiel auf der Fassadenoberfläche erzielt. Andererseits kann dieser Effekt kleinere Unvollkommenheiten im Beton überdecken. Glatte Sichtbetonoberflächen lassen jeden kleinen Makel hervortreten, etwa minimale Abweichungen in der Einfärbung des Betons oder Luftblasen, die beim Gießen entstehen. Die unauffällige Strukturierung hilft dem Auge elegant über eventuell auftretende optische Unterschiede hinweg.
Die Architekten bezogen 39 Quadratmeter Matrize, die im Fertigteilwerk des polnischen Werks Budizol beim Gießen der Betonelemente in die Schalung eingelegt wurden. „Das Gebäude hat in Polen eine hohe Popularität erreicht, weil es komplett aus Fertigteilelementen entstanden ist“, sagt Wójcik. Ähnlich wie in der DDR wurde Fertigteilbauweise in Polen zum Symbol für kommunistische Architektur: „Der Fertigbeton war von niedriger Qualität und sah furchtbar aus. Bis heute findet man viele dieser Wohngebäude in ganz Polen.“ Nach dem Ende des Kommunismus entstanden Neubauten deshalb überwiegend mittels in-situ-Betonverarbeitung. Erst seit wenigen Jahren trauen sich Architekten und Bauunternehmen wieder an die Fertigteilbauweise und müssen dabei Vorurteile überwinden. “Sprzeczna 4 ist ein Symbol für modern polnische Architektur und zeigt das Comeback der Fertigteilindustrie”, sagt Wójcik.
Die Architekten bezeichnen ihr Gebäude als „Manifest für die Fertigteilbauweise“. BBGK entschieden sich bewusst für den Fertigbau, dessen Ansehen durch uninspirierte Architektur im Kommunismus enorm gelitten hat. Ihnen ging es um mehr als die Zeit- und Kostenvorteile. Sprzeczna 4 stellt sich dem in Polen angeschlagenen Image der Fertigteilbauweise selbstbewusst entgegen und liefert einen Beweis für modernes, ästhetisches Bauen.